Die Anatomie der leidenden Seele

Die Anatomie der leidenden Seele Die Entstehung der Psychiatrie in Mittel- und Osteuropa vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (ca. 1750–1920)

Organizer
Deutsches Historisches Institut Warschau, Außenstelle Prag, und Karlsuniversität, Philosophische Fakultät, Prag
Funded by
Max Weber Stiftung, Czech Science Foundation
ZIP
11000
Location
Prag
Country
Germany
Takes place
In Attendance
From - Until
29.05.2024 - 31.05.2024
Deadline
31.12.2023
By
Dr. Jaromír Mrňka, Sozialgeschichte der Neuzeit, Deutsches Historisches Institut Warschau, Leiter der Außenstelle Prag

Aufruf zur Einreichung von Beiträgen für eine Werkstatt-Konferenz in Prag, die in Zusammenarbeit zwischen der Karlsuniversität Prag und der Prager Außenstelle des Deutschen Historischen Instituts in Warschau vom 29. bis zum 31. Mai 2024 stattfindet.

leidende.seelen.prag2024@gmail.com

Termin bis 31. Dezember 2023.

Die Anatomie der leidenden Seele Die Entstehung der Psychiatrie in Mittel- und Osteuropa vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (ca. 1750–1920)

Das Interesse an der Geschichte der Psychiatrie begann allmählich beachtenswert seit den 1970er Jahren zu sein, als mehrere einflussreiche Sozialwissenschaftler und Historiker die „Anti-Psychiatrie-Bewegung“ kritischer Reflexion unterzogen haben, aber auch als zudem die Konzepte von M. Foucault bei ihnen größere Resonanz gefunden haben. Etwa bis zu den 1960er Jahren war in den kanonischen Darlegungen der Geschichte der Psychiatrie die optimistische und nahezu hagiographische Bewertung der ersten Ansätze humaner Behandlung von psychisch Kranken vorherrschend, welche gewöhnlich mit der Tätigkeit von P. Pinel, V. Chiarugi oder S. und W. Tuke verbunden wurde.

Während der späten 1960ern und in den 1970ern begegnen wir dabei immer häufiger Kritik an der zeitgenössischen psychiatrischen Praxis, insbesondere dann an dem Missbrauch von Internierung, Psychopharmaka und anderer Eingriffsformen in die menschliche Freiheit und Integrität. Nicht ausschließlich die provokativen Thesen von M. Foucault waren bei dieser kritischen Einstellung von Belang, sondern z. B. auch das Theaterstück von K. Kesey Let's Get Him Out of the Wheel (verfilmt vom tschechischen Emigranten M. Forman unter dem Titel One Flew Over the Cuckoo's Nest). In ihren Werken stellten manche bedeutenden Psychiater, allen voran T. Scheff und T. Szasz, nicht nur die zeitgenössischen psychiatrischen Verfahren in Frage, sondern auch das Konzept der „Geisteskrankheit“ als solches, indem sie auf seine konstruktivistische Beschaffenheit und zudem auf seine Missbrauchsmöglichkeiten hingewiesen haben.

Ist „Geisteskrankheit“ nur eine Art „Restkategorie“ zur Bezeichnung unerwünschter Verhaltensweisen, die nicht ohne weiteres kriminalisiert werden können? Galt etwa „Irrenhaus“ nur als geordnete Einrichtung zur Internierung unbequemer sozialer Elemente, die nicht legal eingesperrt werden können (wobei die Grenzziehung zwischen beiden Kategorien immer heikel sein dürfte)?

In Mittel/Osteuropa tauchte ähnliche Kritik erst ab den 1990er Jahren auf, insbesondere mit der Aufdeckung brutaler Praktiken in psychiatrischen Einrichtungen in der ehemaligen UdSSR, wo politischer und ideologischer Missbrauch psychiatrischer Einrichtungen zur Internierung und ziviler Degradierung unbequemer Personen Alltag war.

Das gemeinsame Motiv all solcher Untersuchungen stellte die Akzentuierung sozialer und politischer Dimensionen dieses scheinbar „gerechten“ medizinischen Bereichs dar.

Das Ziel der geplanten Tagung ist ein überregionaler Vergleich der Bedingungen und Strategien, unter denen sich die Psychiatrie als eigenständiges medizinisches Fachgebiet und als spezifisches Behandlungsangebot in verschiedenen europäischen Ländern und Regionen zwischen dem späten 18. und frühen 20. Jahrhundert entfalten hat (d.h. im Wesentlichen von den aufklärerischen Ursprüngen des „humanistischen Diskurses“ über psychische Erkrankungen bis zur Verbreitung der Psychoanalyse einerseits und der Psychopharmaka andererseits).

Obwohl die Veranstaltung Forschern und Forscherinnen aus ganz Europa offensteht, sollten insbesondere die noch wenig erforschten Gebiete Mittel- und Osteuropas dadurch gefördert werden.

Mögliche Themen:
1) Vom „Wahnsinn“ zur „Geisteskrankheit“: Was ist eine „Geisteskrankheit“?
Inwiefern haben die ausgewählten Autoren (bzw. die ausgewählte Zeit/Region/Sprachraum) definiert, was „Geisteskrankheit“ überhaupt ist? Inwieweit ist diese wirklich „psychisch“? Kann sie auch „körperlich“ sein? In welchem Verhältnis steht solche Krankheit eigentlich zur körperlichen“ Krankheit?

2) „Die Ordnung des Wahnsinns“: Taxonomie:
Auf welche Art und Weise wurden diese Krankheiten klassifiziert, in Kategorien gegliedert? Welche Krankheiten wurden hier überhaupt klassifiziert, bei welchen Krankheiten wurde diskutiert, ob sie „geistig“ sind oder nicht (die Frage der Epilepsie, der Hysterie usw.)?

3) Die Etablierung des „psychiatrischen Diskurses“: Wie wurde ein spezifischer, von der Körpermedizin abgrenzbarer Diskurs der „Seelenmedizin“ etabliert? Wie definierte er seine Besonderheit, seine Exklusivität, seine Forschungs- und Behandlungsfelder? Wie funktionierte die Vernetzung von Ärzten, die sich diesem bis dahin vernachlässigten Zweig der Medizin zuwandten?

4) Psychiatrie als Fachbereich: Die Etablierung der „Aliénistique“ als universitäre Disziplin, als spezifischer Zweig der Medizin: Wer, wann, auf welchen Wegen und mit welchen Strategien erreichte diese Institutionalisierung? Wie hat er sein Fach und seine Existenz legitimiert?

5) Behandlung: Was wissen wir über die „neuen“ Behandlungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert bei der Behandlung psychisch kranker angewandt wurden und von denen behauptet wurde, sie seien „menschlich“ und „wirksam“? Wie sollten „Arbeitstherapie“, „Beschäftigungstherapie“, „Musiktherapie“ in der Theorie, aber auch in der Praxis funktionieren? Was wissen wir noch über die drastischen (und in der Tat rein physischen) Methoden der „neuen“ „heilenden“ Behandlung von Patienten? (der sogenannte Cox-Stuhl, der Autenrieth-Wickel, das „Haarschnurziehen“...usw.)?

6) Von der „Irrenanstalt“ zum „psychiatrischen Krankenhaus“: Wie funktionierten die ausgewählten Einrichtungen für psychisch kranke? Wer richtete sie ein, leitete sie, was war ihr Zweck? Welche Arten von „geisteskranken“ Patienten wurden dort aufgenommen? Wie (und ob überhaupt) funktionierte die „Behandlung“ dort?

7) Der Staat, das Recht und die psychische Gesundheit: Wie verhielt sich der Staat zur geistigen Gesundheit und umgekehrt zum Wahnsinn oder später zur Geisteskrankheit? Wie hat der Staat die „Medikalisierung des Wahnsinns“ in die Rechtsmaßnahmen integriert? Wann entstand die forensische Psychologie oder Psychiatrie? Und welche Rolle spielte der Wahnsinn/die psychische Krankheit im Rahmen des Ermittlungsverfahrens (ob der psychisch Kranke eher Angeklagte oder vielmehr Zeuge war)?

8) Welche anderen unterstützenden Formen der Betreuung und Behandlung gibt es in dieser Zeit, ganz abgesehen vom medizinischen Bereich? Welche Rolle spielten die Geistlichen/Kirchen? Entsprachen sie in irgendeiner Weise den neuen medizinischen Verfahren, spiegelten sie in irgendeiner Weise das „Konzept“ der Geisteskrankheit als solches wider?

Bitte senden Sie den Titel und die Zusammenfassung Ihres Beitrags bis zum 31. Dezember 2023 auf leidende.seelen.prag2024@gmail.com in Englisch und gleichzeitig auf Deutsch oder Polnisch/Tschechisch. Um das Thema klarzustellen, können Sie auch den Titel und eine kurze Anmerkung des Beitrags in Ihrer Muttersprache anhängen.

Die Konferenzsprachen für Vorträge und Diskussionen sind Englisch und Deutsch

Dr. Eva Hajdinová, Philosophische Fakultät, Karlsuniversität Prag
Dr. Tereza Liepoldová, Naturwissenschaftliche Fakultät, Karlsuniversität Prag
Dr. Jaromír Mrňka, Deutsches Historisches Institut, Warschau – Abt. Prag
Doc. Daniela Tinková, Philosophische Fakultät, Karlsuniversität, Prag

Contact (announcement)

leidende.seelen.prag2024@gmail.com